Überreizt, aber nicht „zu sensibel“: Warum neurodivergente Menschen anders fühlen (und was helfen kann)
- 10. Aug.
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Aug.
Kennst du das Gefühl, innerlich unter Strom zu stehen – ohne zu wissen, warum?
Als würde dein Nervensystem auf allen Kanälen gleichzeitig senden, empfangen und auswerten?
Für viele neurodivergente Menschen – etwa mit ADHS, im autistischen Spektrum oder mit hoher Reizempfindlichkeit– ist das kein Ausnahmezustand, sondern Alltag.
Und nein: Das hat nichts mit „Überempfindlichkeit“ zu tun. Es ist neurobiologisch erklärbar und verdient vor allem eines: Verständnis statt Bewertung.
Was passiert bei Reizüberflutung im Gehirn?
Neurodivergente Menschen verarbeiten Reize anders – intensiver, ungefilterter, tiefer. Sowohl äußere als auch innere Reize werden weniger „sortiert“ als bei neurotypischen Menschen.
Das bedeutet:
Sensorische Reize wie Licht, Geräusche, Gerüche oder Berührungen treffen gleichzeitig und ungefiltert ein.
Emotionale Reize – etwa Stimmungen anderer, Kritik oder innere Zweifel – werden häufig stärker empfunden, oft sogar als körperlicher Stress.
Das autonome Nervensystem kommt schnell aus dem Gleichgewicht: Der Sympathikus (Alarm, Anspannung) dominiert – während der Parasympathikus (Ruhe, Regeneration) nur schwer aktiviert wird.
Die Folge: Daueranspannung, die nach außen nicht immer sichtbar ist – aber innerlich alles beeinflusst.
Wenn „normale“ Situationen plötzlich zu viel sind
Ob bei Präsentationen, Bewerbungsgesprächen, unter Leistungsdruck oder in sozialen Situationen mit unausgesprochenen Erwartungen – für viele neurodivergente Menschen bedeutet das:
Das Herz rast, obwohl äußerlich alles ruhig wirkt
Der Kopf ist voller Tabs – aber kein Gedanke kommt zu Ende
Der Körper fühlt sich an, als stünde er unter Strom
Und das Atmen? Fühlt sich an, als wäre kein Platz dafür
Wichtig: Das ist kein „Drama“, sondern eine ganz reale Reizverarbeitung im Gehirn.
Perfektionismus: Ein Schutzmechanismus mit Nebenwirkungen
Viele neurodivergente Menschen entwickeln früh den Glaubenssatz:„Ich muss besonders gut, besonders angepasst, besonders leistungsfähig sein – sonst falle ich negativ auf.“
Aus Angst, nicht ernst genommen zu werden, „anstrengend“ zu wirken oder als „zu sensibel“ abgestempelt zu werden, entsteht häufig ein Perfektionismus, der auf den ersten Blick schützt – aber langfristig überfordert.
So wird Perfektionismus schnell zum Verstärker von Überreizung.Ein Kreislauf, der sich meist erst durch bewusstes Hinschauen durchbrechen lässt.
Was helfen kann:
1. Reize reduzieren – ohne sich komplett zurückzuziehen
Noise-Cancelling-Kopfhörer
Sonnenbrille – auch in Innenräumen
Visuelle Klarheit: ein strukturierter Arbeitsplatz
Rückzugsorte schaffen – auch im Alltag, z. B. Ruheraum, Auto, Pausenspaziergang
2. Reize besser verarbeiten lernen
Regelmäßige Reizpausen (z. B. 10 Minuten komplett ohne Input)
Atemübungen & Vagusnerv-Stimulation
Strukturen schaffen: Routinen, To-do-Listen, klare Abläufe
3. Mit Erwartungsdruck anders umgehen
Reflektieren: Wann ist etwas wirklich „gut genug“ für mich?
Selbstmitgefühl statt innerer Antreiber
Große Aufgaben in kleine, machbare Schritte zerlegen
4. Sichtbar werden – statt sich zurückzuziehen
Offen kommunizieren: „Gerade ist mir das zu viel“ darf gesagt werden
Im Team klar machen: „Ich arbeite anders – aber nicht weniger“
Reizüberflutung enttabuisieren – durch Sichtbarkeit entsteht Verständnis
Fazit: Du bist nicht „zu sensibel“.
Reizüberflutung ist kein Zeichen von Schwäche. Sie zeigt, dass dein Nervensystem anders funktioniert.
Was es braucht, ist kein „robuster werden“.
Sondern: ein bewusster, kluger Umgang mit Reizen und Ressourcen.
Denn wahre innere Stärke entsteht nicht durch Dauerfunktionieren.
Sondern durch den Mut, dich selbst ernst zu nehmen und zwar mit all deiner Wahrnehmung, Tiefe und Feinfühligkeit.
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